Kapazitätsplanung
8. Logistikoptimierung durch flexiblen Personaleinsatz mit strategischem Mehrschichtbetrieb
In den vorangehenden Kapiteln wurde beschrieben, wie differenziert Kapazitätsplanung betrieben werden kann und wie viele Einflussfaktoren sich negativ auf das Planungsergebnis auswirken können. Um wirklich kurze Durchlaufzeiten und hohe Liefertreue mit geringer Streubreite auch bei hoher Auslastung erreichen zu können, muss, zumindest theoretisch, jede Ressource kurzfristig bzw. tagesaktuell auf beliebig schwankende Bedarfe ausgerichtet werden können.
Da in den meisten Unternehmen mit klassischer Werkstattfertigung das Personal die begrenzende Ressource darstellt, besteht der Ansatz zur Verbesserung in der Frage, wie die Personalressourcen flexibler bereitgestellt werden können bzw. wie man es erreichen kann, jeden Arbeitsplatz bei Bedarf 24 Stunden am Tag nutzen bzw. besetzen zu können, obwohl der Kapazitätsbedarf insgesamt vielleicht nicht einmal dafür ausreicht, alle Arbeitsplätze des Unternehmens mit zumindest einer Schicht auszulasten.
Der im Folgenden beschriebe Lösungsansatz gilt grundsätzlich für alle Unternehmensstrukturen, zeigt aber seine Stärken insbesondere in Unternehmen, bei denen folgenden Aspekte gegeben sind:
- interne Organisation nach dem Werkstattprinzip
- die Arbeitsplätze arbeiten nicht alle schon im 3-Schicht-Modus
- es gibt einen schwankenden Kapazitätsbedarf mit temporärer Überlast an Engpässen
- es besteht ein deutliches Auslastungsgefälle bei den verschiedenen Bearbeitungstechnologien
- die Anzahl der Mitarbeiter ist deutlich geringer als die Anzahl möglicher Arbeitsschichten in der Produktion
- es gibt bereits Mitarbeiter, die mehr als einen Arbeitsplatz bedienen können, bzw. die eingearbeitet werden können
Der Schlüssel für die Lösung des Kapazitätsplanungsproblems besteht darin, die Anwesenheit der Mitarbeiter unter Berücksichtigung von deren Qualifikation so zu planen, dass zumindest jeder Engpassarbeitsplatz bei Bedarf auch 3-schichtig besetzt werden kann.
Zur Erläuterung des Lösungsansatzes kann das Beispielunternehmen herangezogen werden, in dem zum Planungsstichtag ca. 60 Mitarbeiter in der Produktion beschäftigt waren, die an 85 Einzelarbeitsplätzen eingesetzt werden konnten. Von den 67 aktiven Arbeitsplätzen arbeiteten knapp ein Drittel im 2-Schicht-Modus und zwei Drittel im 1-Schicht-Modus. Die Hälfte dieser Arbeitsplätze wies, bezogen auf die eingestellte Standardkapazität, eine Auslastung unter 50 Prozent auf, so dass auch im Echtbetrieb Mitarbeiter schon untertägig ihren Einsatzort wechseln mussten, wenn Arbeitsmangel am Stammarbeitsplatz bestand.
Anhand der rückgemeldeten Leistungsverläufe kann man erkennen, dass es in der Vergangenheit auch schon einige Arbeitsplätze gab, die bei hoher Belastung offensichtlich mehrschichtig mit bis zu 3 Schichten pro Tag besetzt wurden.
Der Lösungsansatz für die Erhöhung der Flexibilität besteht darin, den Mitarbeitereinsatz grundsätzlich für alle Mitarbeiter über Personalpools mit flexiblen Mehrschicht-Arbeitszeitmodellen zu verplanen, auch wenn an Ihrem Stammarbeitsplatz der Kapazitätsbedarf aktuell dafür nicht ausreicht. Die Intensität des Mehrschichtansatzes wird dabei u. a. von der Schwankungsbreite des Kapazitätsbedarfs und von den Zusatzkosten für den Schichtbetrieb bestimmt. Die Änderung des neuen Planungsansatzes gegenüber der klassischen Vorgehensweise besteht darin, dass der Mitarbeiter nicht mehr an seinem angestammten Arbeitsplatz mit Arbeit versorgt wird und ggf. auf Arbeit wartet, sondern dass er dort arbeitet, wo gerade die wichtigste Arbeit bezogen auf seine Qualifikation ansteht.
Bild 8.1 zeigt die Grundprinzipien des strategischen Mehrschichtbetriebs auf. Die Mitarbeiter werden einem Personalpool zugeordnet, dem ein Maschinenpool gegenübersteht. Aus dem Personalpool werden Schichtteams abgeleitet, die auf die Besetzung des Maschinenpools ausgerichtet sind. Die Zielsetzung bei der Team- und Schichtplanung besteht darin, potenzielle temporäre Engpassarbeitsplätze bei Bedarf auch 3-schichtig nutzbar zu machen. Dabei stellt es grundsätzlich kein Problem dar, wenn eine Schicht nicht genutzt werden kann, weil die Puffer in Folgeprozessen kurzfristig als Ausgleich genutzt werden können.
Wenn nach diesem Lösungsansatz für das Beispielunternehmen ein generelles 3-Schichtszenario angesetzt wird, dann kommen zu jeder Schicht jeweils 20 der 60 Mitarbeiter, die meisten Arbeitsplätze bleiben damit in jeder Schicht unbesetzt. Dennoch kann im Bedarfsfall jeder einzelne Arbeitsplatz 3-schichtig besetzt werden, wenn in jeder Schicht zumindest ein ausreichend qualifizierter Mitarbeiter für den Arbeitsplatz vorhanden ist. Zum Schichtbeginn wird jedem Mitarbeiter qualifikationsabhängig der Arbeitsplatz zugewiesen, an dem er seinen Arbeitstag beginnen soll, oder er wählt sich aus einer personenbezogenen Belegungsliste eine von ihm machbare Auftrags-Arbeitsplatz-Kombination aus. Nach Abarbeitung des Auftrags, der der wichtigste auf „seiner“ Arbeitsplatzbelegungsliste gewesen sein sollte, oder ggf. auch schon vorab, wählt der Mitarbeiter aus einer/seiner Belegungsliste eine neue Aufgabe aus, die ggf. auch mit einem Arbeitsplatzwechsel verbunden ist. Falls seine arbeitsplatzübergreifende Belegungsliste keine weitere direkt anstehende Aufgabe enthalten sollte, prüft er, ob er an anderen Arbeitsplätzen unterstützend tätig werden kann, ob er gezielt erst später anstehende Aufträge vorziehen darf oder ob er seine Schicht vorzeitig beendet. Am Ende einer Schicht hat der Mitarbeiter im Idealfall die von ihm machbaren wichtigsten Aufgaben abgearbeitet. Wenn der Mitarbeiter mehr als einen Arbeitsplatz bedienen bzw. besetzen kann, ist es übrigens relativ unwahrscheinlich, dass er während seiner Schicht keine von ihm machbare Arbeit vorfindet, da ja anwesenheitsbedingt in jeder Schicht nur 20 der insgesamt 85 Einzelarbeitsplätze besetzt sein können.
Betrachtet man in diesem Szenario hochausgelastete Arbeitsplätze, dann können diese im Idealfall mit 3 Schichten pro Tag besetzt werden, wenn pro Schicht jeweils mindestens ein entsprechend qualifizierter Mitarbeiter anwesend ist. Bei Arbeitsgängen mit großem Arbeitsinhalt kann situationsabhängig kurzfristig eine 3-Schicht-Bearbeitung angesetzt werden, um beispielsweise einen zuvor aufgetretenen Rückstand durch Zusatzschichten wieder auszugleichen oder um die Arbeitsplatzblockadedauer durch Langläufer zu reduzieren.
Die Frage, welcher Schichtmodus für den logistisch bedingten strategischen Mehrschichtbetrieb sinnvoll ist, orientiert sich an der jeweiligen Unternehmenssituation. Je höher beispielsweise die Schwankungsbreite des Kapazitätsbedarfs je Tag und je Arbeitsplatz ist, desto größer sollte Schichtkorridor ausgerichtet sein. Quantitative Aussagen zur Konfiguration und zum Nutzen des strategischen Mehrschichtbetriebs können mit vergleichsweise geringem Aufwand über die Simulationsfunktionen der FAST/pro-Software getätigt werden.
Die folgende Auswertung zeigt die Simulationsergebnisse für einen strategischen 2- und 3-Schichtbetrieb im Beispielunternehmen. Erwartungsgemäß zeigen beide Ergebnisse deutliche Verbesserungen gegenüber dem im Unternehmen praktizierten klassischen Schichtbetrieb.
Die Anwendung des strategischen Mehrschichtbetriebs im Unternehmen erfordert grundsätzlich keine besonderen Investitionen und grundsätzlich auch keine Weiterqualifizierung der Mitarbeiter,
aber:
Je flexibler die Mitarbeiter terminlich und qualifikationsabhängig eingesetzt werden können, desto größer ist der logistische Erfolg der Maßnahme.
Folgende Vorteile sprechen für die Anwendung des strategischen Mehrschichtbetriebs gegenüber einer klassischen individuellen Schichtplanung:
- bestmögliche Anpassung des Kapazitätsangebots an den Kapazitätsbedarf
- Vermeidung bzw. Reduzierung von Leerlauf bzgl. der Personalressourcen
- Reduzierung der Durchlaufzeit
- Verbesserung der Termineinhaltung
- Reduzierung der Planungspuffer bzgl. Durchlaufzeiten und Beständen
- Schaffung der Randbedingungen für interne Mitarbeiterqualifikation
- Potenziell höhere Mitarbeitermotivation
- Vermeidung längerer Durchlaufzeiten an Nicht-Engpass-Arbeitsplätzen
- Höhere Personal-Produktivität
- Weniger Leistungseinbrüche bei geringerer Auslastung
- Schnellere Reaktionsmöglichkeiten bei Prozessstörungen
- Problemlose Einführung von Kurzarbeit durch Reduzierung der Mitarbeiteranzahl in Abhängigkeit von deren Qualifikation.
Die Bildserie 8.3a bis 8.3e zeigt die Ergebnisse von Simulationsläufen mit unterschiedlichen Kapazitätsansätzen in Form von detaillierteren Häufigkeitsverteilungen. In dem Anwendungsbeispiel wurde ein realer Unternehmensdatenbestand mit Stichtag 28.Juni 2018 als Referenz verwendet. Aus den Originaldaten wurden die Rückmeldungen ab 8.1.2018 gelöscht. Dadurch wurde der Stichtag simulativ auf den 8.1.2018 zurückgesetzt. Damit können die Simulationsergebnisse mit den Realdaten für den Zeitraum 8.1.2018 bis 27.6.2018 vergleichen werden.
Das erste Bild (Bild 8.3a) zeigt die tatsächlich im Unternehmen erzielten Ergebnisse. Demnach hatten die von Januar bis Ende Juni fertiggestellten Aufträge einen mittleren Verzug von 13,4 Tagen mit einer Standardabweichung von 33 Tagen.
Bild 8.3b zeigt die bestmögliche Endterminabweichung als Ergebnis einer Belastungsterminierung mit maximaler Reduzierung aller Planungspuffer. Demnach könnten bei unbegrenzter Kapazität 1163 von insgesamt 1361 Aufträgen rechtzeitig fertiggestellt werden. Die anderen 198 Aufträge (14,5 Prozent) wären beispielsweise wegen zu hoher Durchführungszeiten oder fehlenden Materials nicht rechtzeitig herstellbar.
Bild 8.3c zeigt das Planungsergebnis bezogen auf eine Kapazitätseinstellung, die dem tatsächlichen Leistungsverlauf der Vergangenheit entspricht. Demnach wäre das Ergebnis der in der Simulation verwendeten FAST-Planungsmethodik schon etwas besser als der Realzustand im Unternehmen. Die große Streuung der Werte ergibt sich aus den von vornherein ohnehin nicht rechtzeitig gestarteten oder mangels Materials nicht machbaren Aufträgen. Die Kapazitäten wurden so eingestellt, dass über den Gesamtzeitraum keine Überlastsituation bestand.
Bild 8.3d zeigt eine deutliche Verbesserung bei der Anwendung des strategischen Mehrschichtbetriebs (2-Schichtbetrieb plus 2 Stunden pro Tag) gegenüber der im Realbetrieb praktizierten individuellen Kapazitätsplanung.
Die Erweiterung des Kapazitätskorridors von dem erweiterten 2-Schichtbetrieb (Bild 8.3d) auf einen 3-Schichtbetrieb brachte insgesamt gesehen praktisch keine messbare Verbesserung in der gegeben Anwendungsumgebung. Wie zuvor erläutert, kann der günstigste Betriebspunkt eines Unternehmens bzgl. der Kapazitätskonfiguration für die jeweilige Prozesssituation mit geringem Aufwand durch eine kleine Simulationsserie ermittelt werden.